Forschung
Die Vinzenzenscheibe gehört klar als Gegenstück zur Scheibe mit der Darstellung der Monsichelmadonna und bildet mit ihr eine Doppelscheibe, die der Berner Rat in die Kirche Affoltern schenkte. Die Berner Quellen bleiben jedoch bezüglich der Stiftung und Zuweisung an einen Glasmaler äusserst unklar. Schon 1520 werden Fenster (mit Wappenscheiben?) in Affoltern erwähnt. Der Rat weist am 26. Juni dieses Jahres den Meier von Affoltern an, die Fenster auszubrechen und aufzubewahren, bis Jakob Stächeli für seine Arbeit bezahlt sei: "An meyer von Affholtern, die pfänster usszubrächen und die zu sinen handen zu behalten, so lang, vil und gnug, biss Jakob Stächeli sellicher sin arbeit bezalt werde." (Haller 1900, S. 121). Hans Lehmann bezieht diesen Eintrag nicht wie Heinrich Türler (SKL 3/1913, S. 209) auf die Kirche Affoltern im Emmental und somit auf die von dort stammende Berner Ämterscheibe im Bernischen Historischen Museum (BHM Bern, Inv. 1915), sondern auf die um 1514–1524 erneuerte Kirche von Grossaffoltern (Lehmann 1914, S. 142–144). Allerdings kann man die dortigen 1524 datierten Glasgemälde kaum mit dem Ratsmanualeintrag von 1520 in Verbindung bringen.
Im Ratsmanuale des Jahres 1524 finden sich zwei weitere Einträge, die sich auf die Kirche in Grossaffoltern beziehen. Am 1. Juni heisst es: "Denen von affholtern ist in ir kilchen ein pfenster nachgelassen" (Haller 1900, S. 121), acht Tage darauf empfiehlt der Rat dem Abt von Frienisberg, ein Fenster in den Kirchenbau zu Affoltern zu geben: "Mh. haben geraten, das Mh. abbt von frienisperg denen von affoltern an ir kilchenbuw [15] kronen und ein pfenster solle geben" (Haller 1900. S. 121; Lehmann 1914, S. 142 [Angabe des genauen, von Haller nicht genannten Kronenbetrags]).
In Berns Seckelmeisterrechnungen von 1524 sind drei Posten für Glaserarbeiten verzeichnet: 10 Pfund für "Glaswerch" an Heinrich Grebel, 7 Pfund an Dachselhofer für ein Fenster im Haus, das dem St. Katharinenaltar gehört, sowie 52 Pfund an Jakob Stächeli (Trächsel 1878, S. 188). Diese 52 Pfund entsprechen ungefähr den Kosten für ein Kirchenfenster mit drei gemalten Scheiben. Hans Lehmann ging daher davon aus, dass Stächeli den Betrag für das Kirchenfenster in Grossaffoltern erhielt und dass die Stiftung Berns die Standesscheibe, den hl. Vinzenz und die Madonna umfasste und diese drei Werke "einst eine Felderreihe im mittleren, dreiteiligen Chorfenster" (!) schmückten (in der Mitte die Bernscheibe, links davon die Madonna, rechts davon Vinzenz). Zu unbekannter Zeit soll die stark beschädigte Standesscheibe entfernt und durch diejenige mit der Darstellung eines Abtes ersetzt worden sein.
Laut Lehmann wären also alle drei Scheiben einheitlich, d. h. 1524 angeblich von Stächeli für Bern geschaffen worden. Stilistisch und kompositorisch passt die Standesscheibe jedoch nicht zu den beiden Figurenstücken. Man kann sich deshalb fragen, ob Bern in seine 1524 neu gemachte Stiftung eine bereits existierende ältere Standesscheibe übernahm. Darauf könnte der Manualeintrag vom 1. Juni 1524 deuten, der besagt, dass damals Bern denen von Affoltern in der Kirche ein Fenster "nachgelassen" (Schweizerisches Idiotikon = "hinterlassen") habe.
Die spätgotischen Fenster der Kirche Grossaffoltern sind alle zweibahnig, wobei die Breite der Glasgemälde genau einer Bahn entspricht. Lehmanns Annahme, wonach die drei Berner Stiftungen ursprünglich im "dreiteiligen" zentralen Chorfenster platziert waren, ist somit unzutreffend. Die Stiftung Berns von 1524 muss ursprünglich vielmehr im zentralen "zweiteiligen" bzw. zweibahnigen Chorfenster eingefügt gewesen sein. Sollte die Bernscheibe tatsächlich aus der Zeit vor 1524 datieren, dann bleibt offen, wo und wie sie ursprünglich eingesetzt war (als Einzelstück oder mit einem Pendant in einem bereits zweibahnigen Fenster?). Möglicherweise ist die Standesscheibe mit der Quelle des Jahres 1520 in Zusammenhang zu sehen. Zeitlich und stilistisch könnte sie zumindest mit den Stiftungen der Stadt Aarberg und des Matthias Maurer einhergehen. Berns Stiftung von 1524 für das zweibahnige zentrale Chorfenster wird jedenfalls mindestens vier Glasgemälde umfasst haben, d. h. die als Pendants nebeneinander platzierten zwei Figurenscheiben (Madonna, Vinzenz) sowie vermutlich in der Reihe darunter die (ältere?) Bernscheibe mit einem nicht mehr existierenden, entweder 1524 neu gemachten oder vielleicht ebenfalls älteren Pendant. Vergleichbar sind diesbezüglich die vier Berner Glasgemälde von 1520 im zentralen zweibahnigen Chorfenster der Kirche Lauperswil. Dort befinden sich in der oberen Reihe die Madonna und der hl. Vinzenz sowie in der unteren zwei von je einem Engel gehaltene Berner Wappen nebeneinander. Dass die Kirche Grossaffoltern 1524 von Bern für das zentrale Chorfenster sogar sechs Glasgemälde erhielt, wie 1515 die Kirche Jegenstorf, ist hingegen kaum wahrscheinlich.
Der Glasmaler der 1524 gestifteten Scheiben arbeitete im Stil Hans Funks. Darauf weisen Physiognomie, Faltenstil und Ornamentformen der Glasgemälde, die sich beispielsweise auch in den Arbeiten Funks von 1527 für das Rathaus Lausanne nachweisen lassen (Grandjean 1965, S. 413–417, Fig. 320–327). Eine um 1520 entstandene Vinzenzenscheibe nach der gleichen Vorlage findet sich auch in der Kirche von Würzbrunnen (Röthenbach). Eine gegengleich komponierte befand sich zudem einst in der Kirche Hindelbank (beim Brand 1911 zerstört; Lehmann 1915, Abb. 4). Wesentlich schlanker sind die nach gleichem Muster gestalteten Vinzenzenfiguren in den Kirchen von Reitnau (Hasler 2002, Kat.-Nr. 92, Abb. 56) und Neuenegg oder in jener von Oberbalm.
Datierung
1524
StifterIn
Herstellungsort
Eigentümer*in
Kirchgemeinde Grossaffoltern.
Die Unterhaltspflicht der fünf Glasgemälde im Chor 1887 vom Staat Bern zusammen mit dem Chor an die Kirchgemeinde abgetreten (nach Verzeichnis der Glasgemälde in den Kirchenchören des Kantons Bern, erstellt von B. von Rodt 1936; Staatsarchiv Bern, Inv. BB 05.7.343).