Forschung
Die Berner Standesscheibe von Grossaffoltern ist ähnlich komponiert wie die von Bernhard Anderes an Hans Funk zugewiesene Freiburger Standesscheibe im Schweizerischen Nationalmuseum Zürich (SNM, Inv. IN 89; Schneider 1971, Bd. I, Kat.-Nr. 114) und wie der Riss zu einer Berner Standesscheibe in der Sammlung Wyss des Bernischen Historischen Museums (Anderes 1963, Abb. 75, 76; Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 148). Diese beiden Werke datieren aus dem frühen 16. Jahrhundert. Ähnlich komponiert sind ebenfalls die Freiburger Standesscheiben in der Kirche Neuenegg von 1516 (Anderes 1963, Abb. 94) und im Freiburger Museum für Kunst und Geschichte von 1523 (Bergmann 2014, Bd. 2, Kat.-Nr. 29). Allen Scheiben ist die eigentümlich aufgebaute Wappenpyramide mit dem aus der Reichskrone auffliegenden Reichsadler gemein (weitere Beispiele dieser Komposition bei Bergmann 2014, Bd. 1, S. 78/80). Ebenso kennzeichnend für die hier zum Vergleich angeführten Glasgemälde wie für dasjenige in Grossaffoltern sind die schildhaltenden Löwen, die aufgrund ihrer reduzierten Grösse gleichsam in der Helmdecke verschwinden.
Hans Lehmann hob auch den ungewöhnlichen Rahmenoberteil hervor. Eine ähnliche Girlandenrahmung findet sich beispielsweise auf dem um 1520 entstandenen Riss bernischer Herkunft in der Sammlung Wyss (Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 146).
Laut Lehmann sind die drei Scheiben Berns in Grossaffoltern einheitlich, d. h. 1524 angeblich von Jakob Stächeli geschaffen worden. Die Bernscheibe ist allerdings etwas weniger hoch als die beiden Figurenscheiben (Madonna, Vinzenz) von 1524. Zudem weist sie ihnen gegenüber eine andere Rahmenarchitektur und eine andere stilistische Hand auf. Weil sie aufgrund ihres Stils durchaus in den Jahren vor 1524 entstanden sein könnte (s. o.), stellt sich die Frage, ob sie allenfalls aus dem Vorgängerbau in die von Bern 1524 neu gemachte Stiftung übernommen wurde. Darauf könnte der Ratsmanualeintrag vom 1. Juni 1524 deuten, der besagt, dass damals Bern denen von Affoltern in der Kirche ein Fenster "nachgelassen" (Schweizerisches Idiotikon = "hinterlassen") habe (Haller 1900, S. 121).
Möglicherweise kam die Standesscheibe aber auch um 1520 nach Affoltern, als der Kirchenneubau schon im Gang war. Laut Eintrag im Ratsmanuale vom 26. Juni dieses Jahres wies der Berner Rat den Meier von Affoltern damals an, die Fenster auszubauen und zu bewahren, bis Jakob Stächeli für seine Arbeit bezahlt worden sei (Haller 1900, S. 121). Ob die Berner Standesscheibe tatsächlich für Jakob Stächeli in Anspruch genommen werden kann, der allein als Glaser bezeugt ist, bleibt aufgrund der unsicheren Quellenlage allerdings unbeantwortet. Wie der Glasmaler der Figurenscheiben stand auch der Autor dieser Wappenscheibe unter dem Einfluss Hans Funks.
Die spätgotischen Fenster der Kirche Grossaffoltern sind alle zweibahnig, wobei die Breite der Glasgemälde genau einer Bahn entspricht. Lehmanns Annahme, wonach die drei Berner Stiftungen ursprünglich im "dreiteiligen" zentralen Chorfenster platziert waren, ist somit unzutreffend. Die Stiftungen Berns müssen ursprünglich vielmehr im zentralen "zweiteiligen" bzw. zweibahnigen Chorfenster eingefügt gewesen sein und mindestens vier Glasgemälde umfasst haben, d. h. die als Pendants nebeneinander platzierten zwei Figurenscheiben (Madonna, Vinzenz) aus dem Jahr 1524 sowie vermutlich in der Reihe darunter die (ältere?) Bernscheibe mit einem nicht mehr existierenden, entweder 1524 neu gemachten oder vielleicht ebenfalls älteren Pendant. Eine vergleichbare Anordnung vier Berner Glasgemälde von 1520 findet man im zentralen zweibahnigen Chorfenster der Kirche Lauperswil. Dort sind in der oberen Reihe die Madonna und der Vinzenz sowie in der unteren zwei von je einem Engel gehaltene Berner Wappen nebeneinander angebracht. Dass die Kirche Grossaffoltern 1524 von Bern für das zentrale Chorfenster sogar sechs Glasgemälde erhielt (wie 1515 die Kirche Jegenstorf), ist hingegen kaum wahrscheinlich.
Nach den Berichten des 19. Jahrhunderts gab es damals im Chor noch drei Berner Glasgemälde, nämlich im zentralen Chorfenster die beiden Figurenstücke und im rechten Chorfenster die Bernscheibe. Offenbar befanden sich diese Scheiben 1896 also in den gleichen Fenstern wie heute (Thormann und von Mülinen sahen damals die Bernscheibe und den hl. Ursus im "rechten" Chorfenster).
Datierung
1510/20
Zeitraum
1510 – 1524
StifterIn
Herstellungsort
Eigentümer*in
Kirchgemeinde Grossaffoltern.
Die Unterhaltspflicht der fünf Glasgemälde im Chor 1887 vom Staat Bern zusammen mit dem Chor an die Kirchgemeinde abgetreten (nach Verzeichnis der Glasgemälde in den Kirchenchören des Kantons Bern, erstellt von B. von Rodt 1936; Staatsarchiv Bern, Inv. BB 05.7.343).