Forschung
Die vorliegende Scheibe des Abtes von St. Urban stammt aus der ehemaligen Pfarrkirche der an der Grenze zu Luzern liegenden Gemeinde Melchnau. Das Zisterzienserkloster St. Urban besass Güter in Melchnau und hatte von jeher gute Beziehungen zu den Freiherren von Grünenberg, die auf dem Burghügel von Melchnau sassen (Sankt Urban 1994, S. 22, 25). Der Abt Johannes VII. Renzlinger stiftete seine Scheibe anlässlich des 1508–1512 unternommenen Kirchenbaus. Er stammte aus einem Solothurner Ratsgeschlecht. Vor 1498/99 amtete er als Pfarrer in Deitingen und wurde dann Grosskellner in St. Urban. Er stand seinem Kloster 1501–1512 als Abt vor und führte das Kloster aus der Verschuldung heraus, in die es unter den Äbten Johann Küffer (1480–1487) und Heinrich Bartenheim (1487–1501) geraten war (St. Urban 1994, S. 94; Helvetia Sacra III, 3.1, S. 412).
Der Patron des Klosters, der hl. Papst Urban I. (221–230), trägt der deutschen Tradition folgend einen Weinstock bzw. Trauben in der linken Hand, denn der Zusammenfall seines Heiligenfestes mit dem Ende der Frühjahrsarbeiten in den Weingärten machte ihn zum Patron der Winzer. Sein Attribut wurde ihm auch aufgrund der Verwechslung mit dem hl. Bischof von Autun und Langres beigegeben, der am gleichen Tag verehrt wird und sich laut Legende vor seinen Verfolgern hinter einem Weinstock verbarg.
Hans Lehmann (1914) sah die 1510 datierte Scheibe von Johannes Renzlinger noch vor der Restaurierung Hans Drenckhahns in der Kirche Melchnau. Damals befand sie sich im Zentrum der 1709 vom St. Urbaner Abt Malachias Glutz gestifteten Scheibe mit dessen Wappen und demjenigen des Zisterzienserordens im Fussteil sowie den Wappen von Langenstein, Kapfenberg, Rütti, Grünenberg, Herdern und Liebenfels an den Seiten. Laut Lehmann soll 1914 auf Renzlingers Scheibe nur die Säulenrahmung auf der linken Seite sowie die oberen Zwickel mit Rankenwerk und dem Datum 1510 erhalten gewesen sein. Im Widerspruch dazu stehen die Angaben von Rahn (1883), von Mülinen (1890) und Thormann/von Mülinen (1896). Diese Autoren erwähnen in ihrer Auflistung der Glasgemälde von Melchnau nämlich weder die Scheibe von Glutz aus dem Jahr 1709 noch diejenige Renzlingers von 1510. Sie verweisen einzig auf die noch heute an Ort erhaltene Scheibe mit den Wappen aller Konventualen (das Pendant zur Scheibe von Glutz) sowie auf eine angeblich 1516 datierte Scheibe des Klosters St. Urban mit dem hl. Urban als Hauptmotiv in gotischer Umrahmung sowie den Wappen von Cîteaux und des Klosters St. Urban zu dessen Füssen. Diese Widersprüche lassen sich nur dadurch erklären, dass Rahn, von Mülinen und Thormann/von Mülinen das Datum der vorliegenden Scheibe des Abtes Renzlinger falsch als 1516 (statt 1510) interpretierten und das Familienwappen Renzlingers als Klosterwappen deuteten. Dabei ist anzunehmen, dass von Mülinen bzw. Thormann/von Mülinen die irrtümlichen Angaben Rahns unkontrolliert übernahmen. Die jüngere Umrahmung von 1709 fand bei ihnen keine Beachtung und blieb unerwähnt.
Schon 1913 erstellte der Glasmaler Hans Drenckhahn zwei Pausen der Renzlinger-Scheibe, die eine mit dem Bleiliniennetz und den Farbangaben, die andere z. T. in Bleistift, z. T. in schwarzem Pinsel, welche die damaligen Fehlstellen wenigstens teilweise erahnen lassen. Eine dieser Pausen ist folgendermassen bezeichnet: "H.D. gepaust 14, 15, 16 Jan. 1913. Scheibe aus Kirche Melchnau" (Nachlass Drenckhahns im Vitrocentre Romont). 1914 wurde die Scheibe Renzlingers durch Hans Drenckhahn ergänzt (das erneuerte untere Stück im Wappen Renzlingers trägt sein Monogramm "HD"). Anlässlich seiner Restaurierung fertigte der Glasmaler auch die heute in der Glutzscheibe in Melchnau eingebaute Kopie von Renzlingers spätgotischem Glasgemälde. Das Original kam auf diese Weise ins Bernische Historische Museum (vgl. Jahresbericht BHM Bern 1914, S. 18, Abb.).
Schon Lehmann fand es bemerkenswert, dass der St. Urbaner Abt Malachias Glutz beim Neubau der Pfarrkirche Melchnau und der Neustiftung von Fenster und Wappen durch das Kloster im Jahr 1709 die alte Scheibe des Abtes Renzlinger als wertvoll genug befunden hatte, um sie "seiner neuen Stiftung einzuverleiben". Lehmann wies die spätgotische Scheibe denn auch dem bekanntesten Berner Glasmaler dieser Zeit, Hans Funk, zu. Seiner Zuschreibung ist sicher zuzustimmen, denn die Figur des hl. Urban ähnelt in hohem Masse dem hl. Nikolaus der Stadtscheibe von Bremgarten, die ebenfalls 1510 datiert und von Hans Funk signiert ist (BHM Bern, Inv. 370). Dabei muss man leider der Beeinträchtigung ihrer Lesbarkeit durch das beriebene Schwarzlot Rechnung tragen.
Datierung
1510
StifterIn
Renzlinger, Johannes VII. (1501–1512), Abt von St. Urban
Ursprünglicher Standort
Herstellungsort
Eigentümer*in
Seit 1914 Bernisches Historisches Museum
Vorbesitzer*in
Bis 1914 im Chor der Kirche Melchnau.
Inventarnummer
BHM 8040