Forschung
Für die Einordnung des Hinterglasgemäldes über das anekdotisch Genrehafte hinaus in einen Zyklus der Sinne spricht die Tatsache, dass sich mehrere zeitgenössische Bilder identischen Formats und gleicher Malart erhalten haben, die demselben Kompositionsschema folgen. Allen Bildern gemeinsam ist die Zweiergruppe, in der eine nur wenig ältere weibliche Person einen jungen Knaben in den Genuss eines bestimmten Sinnes einführt. Obwohl die bei allen Exemplaren bestimmt zur Anwendung gelangte graphische Vorlage noch unbekannt ist und die erhaltenen Hinterglasmalereien keine vollständige Reihe ergeben, darf angenommen werden, es handle sich um den im 18. Jahrhundert fast kanonisch etablierten Fünferzyklus: Sehen (Auge), Hören (Ohr), Riechen (Nase), Schmecken (Mund) und Tasten (Hand).
Zwei Vergleichswerke besitzt in Paris das Musée des Arts décoratifs. In der Allegorie des Geruchsinns ("L'odorat", Inv.-Nr. 24158; s. Geyssant 2008, S. 74) riecht ein kleiner Junge entzückt das Parfüm einer Blume, die er aus einem Blumenkranz gezupft hat, welche ihm eine als junge Schäferin gekleidete Frau bereithält. In der Allegorie des Gehörs ("L'ouïe") empfängt ein Junge eine Mandoline, die ihm ein Mädchen stimmt.
Zwei weitere Vergleichsbeispiele befinden sich in französischem Privatbesitz ("L'ouïe", ca. 33.6 x 26.7 cm, mit gleichem Bildinhalt wie jenes des Pariser Museums, und "Le goût", bei der eine durch die Kopfhaube als etwas ältere Dame gekennzeichnete Frau den Jungen eine Tasse heisser Schokolade kosten lässt. s. Jolidon 2000).
Die ganze Gruppe dieser malerhandwerklichen Malereien entstand sicher im Auftrag vermögender Bürgerfamilien. Seit Frieder Rysers Zuschreibung 1997 werden alle Hinterglasgemälde dieser Serien ihrer Maltechnik wegen dem elsässischen Kunstkreis zugewiesen. Auch Mode-Aspekte der Frisur wurden für eine elsässische Provenienz ins Feld geführt (Glas, Glanz, Farbe 1997, S. 169, Kat.-Nr. R 2 a b; dann Geyssant 2008, S. 74: Abb. einer Strassburgerin, um 1780, Strassburg, Musée des Arts décoratifs; s. auch Reflets de lumière 2003, S. 36 und 49, Kat.-Nr. 51). Die Art des wohl sicher zugehörigen flachen Leistenrahmens verweist ebenfalls am ehesten ins Elsass.
Weil durch Auswanderung und familiäre Verwandtschaft sowie durch intensiven wirtschaftlichen und kulturellen Austausch Beziehungen Luzerns zum Elsass bestanden, geht die Forschung davon aus, dass die frühe Hinterglasmalerei des 18. Jahrhunderts in der elsässischen Region durch das Hinterglasmalerei-Zentrum Sursee initiiert und beeinflusst wurde. Die Zuschreibung der in französischem Privatbesitz befindlichen Allegorien an die Elsässerin Marguerite Schmitt wurde von Jean-Pierre Forney erstmals in der Ausstellung in Chartres (s. Geyssant 2011, S. 46) geäussert. Anhand noch unpublizierter genealogischer Studien einer seiner Vorfahren wäre diese Künstlerin aus dem elsässischen Urschenheim bei Colmar gebürtig. Der Katalog (nach Ausstellungsende erschienen) gibt hierfür keine Begründung. Frieder Ryser (Glas, Glanz, Farbe 1997, S. 171) hat anhand der unterschiedlichen Feinheit von Inkarnat einerseits sowie von Kleidung und Hintergrund andererseits für das Hinterglasgemälde die Zusammenarbeit zweier deutlich unterscheidbarer Hände postuliert.
All diesen Bildern gemeinsam sind das lebhafte Kolorit und der unnuancierte schwarze Hintergrund, welcher die isoliert agierenden Figuren mit den ausdrucksstarken Augen besonders hervorhebt. In diesen Eigenschaften und in der eigenartigen Maltechnik erkannte Frieder Ryser eine Vorstufe zu den späteren volkstümlichen Malereien des 19. Jahrhunderts aus dem Elsass und dem Schwarzwald (Ryser 1994).
Eine maltechnische Verwandtschaft mit Hinterglasmalereien der Spengler-Dynastie (Geyssant 2008, S. 74, Anm. 15: mit irrtümlichem Verweis auf Ryser 1991) kann hingegen ebensowenig wie eine stilistische Ähnlichkeit mit der Bodensee-Schule festgestellt werden.
Datierung
Um 1760
Zeitraum
1740 – 1770
Eingangsdatum
2000
Schenker*in / Verkäufer*in
Eigentümer*in
Vorbesitzer*in
Sammlung Fülscher, Zürich · R.+F. Ryser (1993)
Inventarnummer
RY 864