Forschung
Die Scheibe weist eine besondere Ikonographie auf, die den Pfarrern öfters eigen ist. Der Geistliche lässt sich selbst am Fuss der Scheibe als frommer Stifter in Chorherrenkleidung darstellen. Sein hl. Namenspatron Petrus ist als Seitenfigur links zu sehen. Mit der Taufe Christi wird auf den zweiten Namenspatron Johannes den Täufer und auf die Tätigkeit des Geistlichen als Kindstäufer (s. u.) angespielt. Das Mittelbild zeigt die allegorische Darstellung des Zweifels. Die Zweige, Sinnbild eines zwiespältigen Charakters, enden in verschiedenen symbolischen Figuren: der Mensch muss sich zwischen dem Verstand (dem Kopf), den Begierden (dem strahlenden Homunculus) und dem Gefühl (dem Herz) entscheiden. Die Darstellung geht recht genau auf einen Holzschnitt zurück, den der mit Notnamen als Petrarca-Meister bezeichnete Stecher für das Buch des Francesco Petrarca “Von der Artzney bayder Glueck des guten und widerwaertigen” schuf (Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 87.1). Dieses war eines der meistgelesenen Werke seiner Zeit, das in deutscher Sprache erstmals in Ausgburg 1532 erschien, bis 1620 mehrere Neuauflagen erlebte und seit der zweiten Auflage auch “Trostspiegel” genannt wurde. Petrarca erklärt darin, dass die Philosophen das Gemüt aus drei Quellen herleiten, aus dem Kopf, welcher das menschliche Leben regiert, aus dem Herzen, wo sich Zorn und Wut aufstauen und entfachen, und aus der Region unterhalb des Herzens, dem Ort der Begierde und Unreinheit (Scheidig 1955. S. 274–275; Lemmer 1984. Das ander Buch, p. LXXXIX. Freundlicher Hinweis von Achim Riether, München). Der Autor sagt, ebenso wie die erklärende Bildinschrift der Scheibe in Latein und Deutsch, dass sich der von Zweifel geplagte, innerlich gespaltene Mensch auf ein Ziel konzentrieren und Gefühls- und Triebleben überwinden soll, damit er zum inneren Frieden gelange. Mit Entschlossenheit entfernt die allegorische Figur also den Ast, der die innere Zerrissenheit darstellt. Das Bild spielt aber möglicherweise auch auf vergleichbare Emblemata an, die darlegen, dass aus einem abgesägten Ast wieder neue, junge und kräftige Zweige, d. h. neue Kräfte wachsen werden.
Ob der Stifter selbst infolge persönlicher Erlebnisse seelische Nöte durchstand und sich daher von diesem Petrarca-Motiv besonders angesprochen fühlte, ist in seiner Biographie nicht ablesbar. Die Scheibe, welche auch Glasmaler des 19. Jahrhunderts inspirierte (Vgl. die Zeichnung im Vitrocentre Romont, Nachlass Hans Meyer, Kiste Adolf Kreuzer; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 87.2), wurde bisher stets unter dem Stifternamen Peter Johann Puro (Pürro) geführt, dies aufgrund des ausgekratzten Buchstabens U in der Inschrift. Ein Geistlicher mit diesem Namen ist bislang jedoch nicht nachweisbar. Auch das dargestellte Wappen ist unbekannt. Wegen der korrigierten Inschrift könnte vielleicht auch der Name Perrod erwogen werden. Ein Peter Perrod oder Perroud wurde 1623 Pfarrer in Jaun und starb am 20.3.1625 (Clergé séculier et régulier. S. 142; Thürler 1997, Nr. 5490). Den Pfarrer Jean Perroud und sein Wappen kennen wir aus seiner Scheibenstiftung von 1624 (FR_98).
Die feinsinnige Ikonographie der Scheibe und das Chormäntelchen des Dargestellten lässt hingegen an einen bedeutenderen Stifter und Chorherren denken. Die Merkmale treffen auf Peter Hans zu, der 1597 Canonicus und 1610 Pfarrer in St. Nikolaus wurde. Der Reverendus Dominus führte zwischen 1608 und 1618 auch Taufen in der Stadtkirche durch (StAF Taufbuch IIa 4a). Er amtete 1626 als Kantor und 1636 als Dekan des Kapitels. Während der Pest des Jahres 1616 bewies er seine Aufopferungsbereitschaft und Nächstenliebe und erhielt dafür von der Obrigkeit eine Auszeichnung. Peter Hans resignierte 1617 aus gesundheitlichen Gründen und unter grossem Bedauern der Obrigkeit als Pfarrer der Stadtkirche (StAF RM 168, 1617, p. 651 [14.12.1617] und p. 661 [17.12.1617]). Er unternahm daraufhin eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela, und am 3.8.1640 wurde der Geistliche von Kaiser Ferdinand III. geadelt sowie zum Ritter des Goldenen Sporns und Pfalzgrafen ernannt. Dazu verlieh der Kaiser ihm ein geviertes Wappen, das Symbole des Reiches und der Wallfahrt im Schild zeigte (1 und 4 in Gold ein halber gekrönter schwarzer goldbewehrter Adler, 2 und 3 in Silber ein roter Querbalken, belegt mit 3 silbernen Muscheln). 1649 hielt Peter Hans um das durch den Tod von Franz Schmid frei werdende Benefizium und die Verwaltung der hinter Attalens liegenden Kapelle an, die letzterer mit einem Gewölbe ausgestattet hatte (StAF RM 200, 1649, p. 59 [18.2.1649]). Peter Hans starb nur ein Jahr später am 1.7.1650 und vermachte dem Kapitel ein Stück Land beim Murtentor, wo noch heute eine Baumallee den Namen „Palatinat-Promenade“ trägt, in Anspielung auf den Titel des Pfalzgrafen, den der Stifter führte (Brasey 1912. S. 162; Amman 1921. S. 19–21; HBLS IV, 1927. S. 73, Nr. 3; DHBS III, 1926. S. 762). Dass dieser Geistliche vor 1640 noch ein anderes, schlichteres Wappen trug und dieses auf der Scheibe darstellen liess, ist durchaus denkbar. Statt des als Familienname gelesenen Wortes „PURO“ muss vielmehr der Berufstitel des Pfarrers „PARO(CHUS)“ gestanden haben.
Der Glasmaler dieser aussergewöhnlichen Scheibe ist bislang unbekannt geblieben. Der Schriftcharakter unterscheidet sich deutlich von dem sorgfältigen und regelmässigen Duktus der vorangehenden Scheiben, findet sich aber in der Inschrift der nächsten, allerdings zusammengesetzten Scheibe (FR_88).
Datierung
1610
Eingangsdatum
1904
StifterIn
Schenker*in / Verkäufer*in
Auktion Messikommer, Zürich
Ursprünglicher Standort
Herstellungsort
Eigentümer*in
Vorbesitzer*in
Aus der Sammlung de Trétaigne, Paris. 1904 an der Auktion Messikommer Zürich erworben.
Inventarnummer
MAHF 3451