Forschung
Links ist die Personifikation der «Industrie» zu sehen. Dieser Begriff lässt sich auf der Tafel in ihrer rechten Hand erkennen: In der mit Ornamenten verzierten Mitte sind Buchstaben von vorne ins Glas geätzt, so dass sie nur in bestimmten Lichtverhältnissen und von gewissen Blickwinkeln aus zu erkennen sind.
Mit ihren weiteren Attributen – dem Zirkel und dem Winkelmass – nimmt die Figur charakteristische Tätigkeiten der Industrie auf. In ihren Haaren trägt sie einen Lorbeerkranz mit roten Beeren, der üblicherweise Ausdruck eines Sieges ist. Ihr Blick geht – ruhig und selbstbewusst – zur gegenüberliegenden Figur auf der rechten Seite.
Die Figur rechts stellt den Frieden dar. Erkennbar ist sie am geflügelten Friedensstab, der auch Hermesstab genannt wird. Der Stab geht auf eine mythologische Geschichte der Antike zurück, nach der Hermes von Apollon einen Stab geschenkt erhielt und damit zwei kämpfende und ineinander verschlungene Schlangen trennte, worauf dieser zum Symbol des Friedens wurde. Auch die Olivenzweige in ihrem Haar gelten als Zeichen des Friedens. Auf der Papierrolle ist ganz oben das Wort «Vertrag» zu lesen; gemeint ist ein Friedensvertrag oder eine Einigung im Allgemeinen. Danach folgen einige Zeilen mit absichtlich unleserlichem Inhalt. Unten rechts auf dem Vertrag lässt sich entweder «Staufen» oder «Staufer» entziffern, geschrieben in der bis Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchlichen Kurrentschrift. Es ist ungewiss, ob damit beispielsweise eine Ortschaft oder ein Personenname gemeint ist.
Die beiden Allegorien stehen in Zusammenhang mit den politisch-gewerkschaftlichen Errungenschaften bzw. der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Der Friedensvertrag könnte in direktem Zusammenhang zur Einführung des sog. Fabrikgesetzes von 1877 stehen: Das Stimmvolk nahm damals gegen den Widerstand vieler Industrieller knapp ein Bundesgesetz an, das die Autonomie der Unternehmer einschränkte. Noch bedeutender war allerdings der regulative Arbeiterschutz, da das Gesetz beispielsweise die tägliche Arbeitszeit auf elf Stunden begrenzte, die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren verbot und die Fabrikbetreiber zur Haftung bei Unfällen verpflichtete. Mit diesem Bundesgesetz machte sich die Schweiz im internationalen Vergleich zur Pionierin der Arbeiterrechte. Denkbar ist aber auch ein Bezug des undatierten Glasgemäldes zur Einführung des Arbeitertages im Jahre 1890. Bildlich ausgedrückt erhielt die Arbeiterbewegung durch dieses Gesetz ihren (vorläufigen) Frieden.
Datierung
um 1880–1890
Zeitraum
1875 – 1895
Herstellungsort
Eigentümer*in
Inventarnummer
VMR 281