Über den Stifter der Scheibe Gwer (Quirinus) Franz ist bis heute nichts bekannt. Nichtsdestotrotz muss er im Berner Obersimmental eine bedeutende lokale Position in Politik und Rechtsprechung eingenommen haben. Darauf weisen nicht nur der künstlerische Aufwand, sondern auch die ins Scheibenzentrum gesetzte Justitia, die über die Weltenherrscher hinweg urteilt. Diese allegorische Darstellung beruht auf einer Gerechtigkeitsvorstellung, die in Bern besonders ausgeprägt war und dort schon 1543 im Gerechtigkeitsbrunnen zum Ausdruck kommt. Dieser Brunnen zeigt Justitia über den vier Büsten des Kaisers, Papstes, Sultans und Königs. Sie nimmt somit gleichsam die Stelle und Funktion einer Tugend ein, welche über die Laster triumphiert. In Bern ist dieses Motiv auch aus zahlreichen Scheiben und Scheibenrissen bekannt. Es wird bereits in dem Entwurf zu einer Berner Gerichtsherrenscheibe Hans Rudolf Manuels aus dem Jahr 1558 aufgenommen (Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 189). Mit einer Scheibenstiftung Hans Stokars und Elisabeth Peyers aus der Hand des St. Galler Glasmalers Andreas Hör ist diese Gerechtigkeitsdarstellung aber auch schon 1562 ausserhalb Berns nachgewiesen. Desgleichen dominiert Justitia die Fürsten in einer Rundscheibe des Gerichts Wetzikon von 1586 (London, Victoria and Albert Museum, Inv. C.63-1919) und auf einem Scheibenriss Tobias Stimmers aus der Zeit um 1567 (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. XI 264; Mensger 2012, Bd. 2, Kat.-Nr. 799 u. Bd. 1, Farbabb. S. 24; vgl. zusammenfassend Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 189; Bergmann 2014, Kat.-Nr. 89; Hasler 2016, S. 86–90).
Mit dem Wolkenmotiv, das im Gegensatz zum Berner Gerechtigkeitsbrunnen in den Scheiben stets auftaucht, wird der Bezug zum himmlischen Urteilsspruch hergestellt, den üblicherweise an dieser Stelle der hl. Michael fällt. Die Gerechtigkeit nach dem Wort Gottes bildete für die Reformatoren die einzig wahre Autorität. Ihr verpflichtet sah sich seit 1528 auch Berns Obrigkeit. Die "göttliche Gerechtigkeit" steht über weltlicher Herrschaft, schreitet über die irdischen Herrscher hinweg, ist unabhängig von Rang und Namen und findet das Urteil – normalerweise mit verbundenen Augen – allein durch die Erforschung des Gewissens. Die “Gerechtigkeit für alle” hatte in der von republikanischem Geist geprägten Eidgenossenschaft, die sich der Herrschaft der Feudalherren entzogen hatte, einen folgerichtigen Platz und fand selbst im katholischen Freiburg einen bildlichen Niederschlag. Dies belegen die drei Freiburger Standesscheiben von 1611, 1622 und 1623 im Museum für Kunst und Geschichte Freiburgs (Inv. MAHF 1998-019, 3491, 3498). Bei ihnen tiumphiert die wolkenumkränzte Justitia jeweils im Oberbild über die gekrönten Herrscher, wobei unter diesen die Figur des Papstes bezeichnenderweise stets fehlt; Bergmann 2014, Bd. 2, Kat.-Nrn. 89, 95, 96; Bergmann 2016).
Von der nachhaltigen Wirkung, die dieser Bildtypus an seinem Entstehungsort selbst ausübte, zeugen die aus Bern und seinen Untertanenlanden erhaltenen Beispiele der Zeit nach 1560. Dazu zählen die beiden Bildscheiben des Landvogtes Anton Wyss von 1570 und 1578 in der Kirche Aarwangen und im Philadelphia Museum of Art (Inv. 2005-49-I; Burnam 2012, Nr. 23, Farbabb. 23 [dem Berner Glasmaler Joseph Gösler zugeschrieben]), der um die gleiche Zeit von Hans Ulrich I. Fisch geschaffene, möglicherweise für eine Scheibenstiftung in die Kirche Gontenschwil bestimmte Entwurf (BHM Bern, Inv. 20036.542; Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 7) sowie das Glasgemälde des Lotzwiler Vogtes Heinrich Stähli von 1656 im Museumsdepot des Burgdorfer Kornhauses (Inv. 40.52; Hasler 2016, S. 86–90, Abb. 3).
Der ursprüngliche Standort der Scheibe des Obersimmentalers Gwer Franz ist nicht überliefert. 1623 wurden jedoch nachweislich die Fenster im Pfrundhaus (Pfarrhaus) von Zweisimmen erneuert. Für die vier dorthin gelieferten Kreuzfenster erhielten damals Tischmacher, Schlosser, Glaser und Glasmaler laut der Amtsrechnung 40 Pfund. Dass die Scheibe für dort geschaffen wurde, ist jedoch ungesichert.
Stilistische Gründe lassen die vorliegende Scheibe dem Thuner Glasmaler Kaspar Lohner zuweisen. Möglicherweise hatte sie den gleichen Bestimmungsort wie die Stadtscheibe Thuns von 1624 im Bernischen Historischen Museum (BHM Bern, Inv. 393), mit der sie 1881/82 ins Museum gelangte (ob beide Werke über die Sammlung Friedrich Bürkis dorthin kamen, ist ungewiss). Aufgrund ihrer stilistischen Verwandtschaft müssen diese zwei Glasgemälde aus der gleichen Werkstatt stammen. Zu den weiteren verwandten Werken gehören auch die Scheibe der Landschaft Frutigen von 1623 (BHM Bern, Inv. 2998) und diejenige Jakob Pierens und Magdalena Hauswirths von 1623 (BHM Bern, Inv. 6515). Unter den signierten Werken Kaspar Lohners ist vor allem die Ämterscheibe Berns von 1622 in der Kirche Kandersteg mit der Scheibe von Gwer Franz vergleichbar. Dessen signierte Scheibe Frutiger/Bauer von 1640 (BHM Bern, Inv. 5630) weist hingegen eine andere Radiertechnik auf und hebt sich vor allem auch in der Kopfgestaltung davon ab. Der Glasmaler Kaspar Lohner tätigte 1642 eine Eigenstiftung, auf der er sich und seine Frau Maria Engemann in Form eines Willkomm-Paares darstellte (unbekannter Besitz; Kat. Thun 1964, Nr. 181, Abb.).