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Mit der Darstellung der Justitia über der Wappenpyramide drückt die Obrigkeit von Freiburg ihre Pflicht aus, die Gerechtigkeit in der Stadt und in den Untertanengebieten mit Nachdruck durchzusetzen. Die allegorische Darstellung besitzt jedoch noch eine tiefere, subtilere Bedeutung, denn sie beruht auf einer Gerechtigkeitsvorstellung, die offenbar im benachbarten konkurrierenden Bern besonders ausgeprägt war und dort schon 1543 im Gerechtigkeitsbrunnen zum Ausdruck kommt, einem Werk des Freiburger Bildhauers Hans Gieng (Freiburger Skulptur 2011. Bd. I. S. 310–312). Die Brunnenfigur der Gerechtigkeit steht über vier Büsten, die Kaiser, Papst, Sultan und König darstellen. Sie nimmt somit gleichsam die Stelle und Funktion einer Tugend ein, welche über die Laster triumphiert (vgl. hierzu und zu dem folgenden die hervorragende Zusammenfassung und Analyse bei Schneeberger 2006. S. 158–160). In Bern ist dieses Motiv auch aus zahlreichen Scheiben und Scheibenrissen bekannt. Es wird bereits in dem Entwurf zu einer Berner Gerichtsherrenscheibe Hans Rudolf Manuels aus dem Jahr 1558 aufgenommen (BHM Slg Wyss Inv. 20036.595; Hasler 1996/1997. Bd. I. S. 180–190, Nr. 189), ebenso findet es sich als Mittelbild in einer Bernischen Scheibe des Anton Wyss, die dieser 1578 als Vogt zu Wangen in die Kirche Aarwangen stiftete (Foto SLM 8254. Scheidegger 1947. S. 128, Nr. 111; Moser 1977. S. 40, 62; Kurmann-Schwarz 1998. S. 398; BE_14) und in einer Scheibe des Gwer (Quirinus) Franz im Bernischen Historischen Museum von 1622 (BHM Inv. Nr. 392; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 89.1; BE_901). Mit einer Scheibenstiftung Hans Stokars und Elisabeth Peyers aus der Hand des St. Galler Glasmalers Andreas Hör ist diese Gerechtigkeitsdarstellung aber auch schon 1562 ausserhalb von Bern nachgewiesen (SLM IN 67/49; Boesch. 1956. S. 17, Nr. 3, Taf. 1, Abb. 5; Schneider 1971. Bd I. S. 107, Nr. 299). Desgleichen dominiert Justitia die Fürsten in einer Rundscheibe des Gerichts Wetzikon von 1586 (Von einem unbekannten Meister. London, Victoria and Albert Museum C 63-1919; Boesch 1954/IV. S. 80–81 mit Abb.), auf einem Scheibenriss Tobias Stimmers (1539–1584) um 1567 (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Inv. XI.264; Tobias Stimmer 1984. S. 424–425, Nr. 265, Abb. 272; Mensger 2009. S. 41–43, Nr. 13; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 89.2) und auf weiteren Rissen und Glasgemälden.
Mit dem Wolkenmotiv, das im Gegensatz zum Berner Gerechtigkeitsbrunnen in den Scheiben stets auftaucht, wird der Bezug zum himmlischen Urteilsspruch hergestellt, den üblicherweise an dieser Stelle der hl. Michael fällt. Die “Göttliche Gerechtigkeit” war während der Reformation in Bern ein politisches Thema, verwies sie doch auf die Gerechtigkeit nach dem Wort Gottes, das mehr galt als ein Fürstenwort (Vgl. Schneeberger 2006. Die Diskussion verbreitete sich offenbar auch über die anderen Orte v. a. des neuen Glaubens). Die göttliche Gerechtigkeit steht über weltlicher Herrschaft, schreitet über die irdischen Herrscher hinweg, ist unabhängig von Rang und Namen und findet das Urteil – normalerweise mit verbundenen Augen – allein durch die Erforschung des Gewissens. Die “Gerechtigkeit für alle” hatte in der von republikanischem Geist geprägten Eidgenossenschaft, die sich der Herrschaft der Feudalherren entzogen hatte, einen folgerichtigen Platz. Bedeutungsvoll und politisch sehr relevant ist hier, dass der Papst – anders als im reformierten Bern – im katholischen Freiburg ausgenommen ist, diesem höchsten geistlichen Fürsten die Autorität in Fragen der Gerechtigkeit also nicht abgesprochen wird. Das Bildmotiv, hier erstmals in einer Freiburger Standesscheibe nachgewiesen, gehörte ganz offensichtlich zum Repertoire der obrigkeitlichen Freiburger Wappenstiftungen in die umliegenden Kirchen und Gemeinden und findet sich auch auf den Standesscheiben der Jahre 1623/24 wieder (FR_95, FR_96).
Als die Standesscheibe in den 1930er Jahren zusammen mit Scheiben aus der Eremitage von St. Petersburg an der Auktion Fischer in Luzern auf den Markt kam, wurde ihr Ankauf vom Freiburger Museum abgelehnt. Sie findet sich jedoch weder auf den Fotos, die von den Fenstern in der Eremitage gemacht wurden, noch in der Literatur zu dieser Sammlung (Bélinsky 1914; Boesch 1939 und Boesch 1944). Sie muss also anderer Herkunft sein.
Das Glasgemälde wurde von Stefan Trümpler, der Zuschreibung in der Fotothek des Schweizerischen Nationalmuseums folgend, aufgrund der Seckelamtsrechnungen dem Freiburger Glasmaler Christoph Heilmann zugeschrieben, der 1611 für die Erstellung von 23 Wappenscheiben halbbögigen Formates 115 Kronen erhielt. Sie ist jedoch sicher nicht vereinbar mit der vom Monogrammisten CH signierten Scheibe in der Pérolles-Kapelle, die Stefan Trümpler und andere zu Recht ebenfalls mit Christoph Heilmann in Verbindung bringen. Dass die Standesscheibe dennoch von einem heimischen Glasmaler in Freiburg entstand, beweist ihr stilistischer Zusammenhang mit anderen Freiburger Glasgemälden (FR_90, FR_227, FR_244, FR_245, FR_269). Der Figurenstil, die prägnante Gestaltung der Löwen und der Inschriftcharakter verbinden alle diese Werke miteinander. Da zudem nach auswärts gestiftete Scheiben üblicherweise von Glasmalern des Bestimmungsortes ausgeführt wurden, dürfte die Standesscheibe somit eher für einen Ort im freiburgischen Untertanengebiet bestimmt gewesen sein.
Wer dieser Glasmaler war, bleibt jedoch ein Rätsel. Vielleicht auf eine gleiche Vorlage zurückgehende Motive und stilistische Zusammenhänge weist vor allem die Muttergottes des linken Oberbildes mit einem Hinterglasgemälde der Sammlung Ruth und Frieder Ryser im Vitrocentre in Romont auf, das von einem unbekannten Glasmaler SHB VR signiert ist (Inv.-Nr. HGL 503. Jolidon, Yves. Das Hinterglas-Gemälde mit der Allianz Seiler-Metzger von 1612. (Vitrine. Dokumentationsblatt des Schweizerischen Zentrums für Forschung und Information zur Glasmalerei, Romont). Romont 1998; Glanzlichter 2000. S. 105–106, Nr. 48; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 89.3). Beide geben auch den auffallenden rhombischen Nimbus des Jesuskindes wieder. Das wie eine Figurenscheibe aufgebaute, 1612 für den Stein- und Bruchschneider Joachim Seiler und Maria Metzger entstandene Hinterglasgemälde steht seinerseits im Zusammenhang mit einer runden Figurenscheibe, die von Conrad Hertzig aus Wyl und Catharina Wick 1607 an einen unbekannten Ort gestiftet wurde (Ehemals Musée de Cluny. Paris, heute Ecouen, Musée de la Renaissance. Inv.-Nr. Cl 1855. Jolidon 1995. S. 114–115. Nr. 41. Wie seinem Wappen zu entnehmen ist, war Hertzig auch Glaser). Diese ist ebenfalls von dem bislang noch nicht identifizierten Monogrammisten SHB signiert, der in diesem Fall das VR, wohl die Ortsangabe, wegliess. Da das Geschlecht Hertzig v. a. im Kanton Appenzell verbreitet ist, war man bislang versucht, den Glasmaler eher im st.-gallisch-zürcherischen Raum zu suchen. Leider ist die Allianz Seiler-Metzger noch nicht lokalisiert worden, und bislang können auch die stilistischen Zusammenhänge mit den Freiburger Scheibenstiftungen nicht ausreichend erklärt werden, da ein Glasmaler mit dem entsprechenden Monogramm in der Saanestadt nicht nachweisbar ist (Der Zusammenhang zwischen den Freiburger Glasgemälden und dem Hinterglasmaler SHB VR von Yves Jolidon heute erkannt und besonders hervorgehoben).
Datation
1611
Date d'entrée
1997
Commanditaire / Donateur·trice
Donateur·trice / Vendeur·euse
Erben Sibyll Kummer-Rothenhäusler, Zürich
Localisation d'origine
Lieu de production
Propriétaire
Propriétaire précédent·e
1932 im Handel bei Antiquar Eugen Meyer Zürich (Foto SLM). 1932 und 1936 (mit einer Reihe von Scheiben aus der Eremitage, St. Petersburg) auf der Auktion Fischer. 1934 von Frau Störi in Zürich dem Museum für Kunst und Geschichte Freiburg zum Kauf angeboten, das den Kauf jedoch aufgrund des Verdachts der angeblich russischen "unehrlichen Herkunft” ablehnte. 1997 aus der Sammlung Sibyll Kummer-Rothenhäusler, Zürich, erworben.
Numéro d'inventaire
MAHF 1998-019