Research
Die Darstellung des Mittelbildes ist inhaltlich komplex und kann im weitesten Sinne als “Caritas Dei” oder Liebe Gottes bezeichnet werden, die den Menschen durch Christus mitgeteilt wird (1 Jo 4, 8–9). Das Thema der Caritas erfährt hierin eine bisher einzigartige ikonographische Variation eines weit bekannteren Themas, das seit der Zeit des Humanismus als "Caritas Romana" bezeichnet wird. Dieses geht auf den römischen Schriftsteller Valerius Maximus zurück. Seine um 30 n. Chr. erschienene Anekdotensammlung "Factorum et dictorum memorabilium libri IX", eine Kompilation älterer und zeitgenössischer Quellen, war in der Antike, aber auch im Mittelalter bis ans Ende des 18. Jahrhunderts sehr beliebt, da die moralisierenden Erzählungen immer wieder beispielhaft für das gute und schlechte Verhalten der Menschheit angeführt wurden. Im Buch V, 4 beschreibt Valerius Maximus gleich zwei Begebenheiten der virtus romanae: eine eingekerkerte Mutter wird von ihrer Tochter gestillt, und der im Gefängnis schmachtende Athener Cimon wird von seiner Tochter Pero oder Pera an der Brust genährt und so vor dem Tode gerettet. Die Geschichte der barmherzigen Tochter ist auch bei Plinius d. Ä. (61/62–110) in seiner “Naturalis historia” (7, 36) bekannt und wurde in die "Gesta Romanorum" aufgenommen (Trillitzsch 1973. S. 468). Sie ist zudem von Giovanni Boccaccio (1313–1375) in seiner Historiensammlung "De claris mulieribus" wiedergegeben, wo die Tochter den Namen "Romana" führt, und findet sich dann ebenso in Cesare Ripas (um 1560–1620/25) “Iconologia” in der Ausgabe Padua 1630. Die Darstellung der "Caritas Romana" wurde vor allem im Laufe der Renaissance durch die deutschen Humanisten in ganz Europa verbreitet. Auch der mitschwingende erotische Aspekt trug zu ihrer Beliebtheit bei. Besonders die Nürnberger Kleinmeister haben zu ihrer Bekanntheit beigetragen, und Hieronymus Wierix (1553–1619) widmete diesem Thema ebenfalls einen Kupferstich (Mauquoy-Hendrickx 1978/1979. Bd. II. S. 295, Nr. 1648; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 318.1). In der Antike als Symbol der Elternliebe aufgefasst, galt es bald als Bild christlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe, bevor es wiederum Gegenstand der Profanikonographie wurde. Die Darstellung der vorliegenden Scheibe ist in dem emblematisch angedeuteten Lactatio-Motiv und in der Ungleichheit des Paares von dem Bild der Caritas Romana sichtlich beeinflusst. Sie weicht von dem üblichen, wenngleich seltenen Motiv der Caritas als Gottesliebe mit dem Attribut des brennenden Herzens ab (RdK III, 1954. Sp. 355). Erinnerungen werden auch an mystische Hochzeiten, die sich aus den Kommentaren zum Hoheslied entwickelten, oder an die Christus-Johannes-Gruppen wach: hier ruht Johannes Evangelista an der Brust Christi (Jo 13, 23), die als Quell des Lebens (Jo 7, 37) und Evangeliums gedeutet wird (LCI 2, 1970. Sp. 308–312 [Hoheslied]; LCI 1, 1968. Sp. 454 [Christus-Johannes-Gruppe]). In einem Kölner Tafelbild um 1460 stehen der auferstandene Christus und Caritas in einer Landschaft. Caritas wird hier, laut theologischen Vorstellungen des Mittelalters zur Ecclesia, die das Blut aus der Seitenwunde auffängt (RdK III, 1954. Sp. 349–350, Abb. 4). Verschiedene Bildelemente verschmelzen offensichtlich im Bild der Scheibe zu einer neugestalteten religiösen Allegorie, zu der letztlich der Schlüssel zur genauen Deutung verlorenging.
Bei den Scheibenstiftern handelt es sich wohl um Niklaus von Montenach und Katharina Reynold, die 1622 geheiratet hatten. Niklaus von Montenach (31.1.1596–1664) war ein Sohn des Kanzlers Peter von Montenach (um 1560–1629) und der Jeanne Techtermann. 1619 wurde er als Vertreter des Burgquartiers in den Rat der Zweihundert gewählt, 1628 in den Rat der Sechzig. 1628–1633 übernahm er das Amt des Vogts von Rue. 1639 wählte man ihn zum Venner. 1640 kam er in den Kleinen Rat, wurde 1649 Generalkommissär und stieg 1659 ins Amt des Statthalters auf. Katharina Reynold war eine Tochter Bartholomäus Reynolds († 1628) und Magdalena Pythons. Katharina wurde am 16.3.1604 in Greyerz geboren, als ihr Vater dort Vogt war.
Eine spätere Scheibe des Paares von 1663 hat sich in der Pérolles-Kapelle erhalten (FR_13). Ihr Enkel Hans Heinrich wurde Chorherr zu St. Nikolaus (vgl. FR_202).
Das vorliegende Glasgemälde gehört sicher zur gleichen Serie wie die allegorische Bildscheibe Odet in Bulle aus dem Jahr 1628 (FR_246) und dürfte dem gleichen, nicht mit Bestimmtheit zu identifizierenden Glasmaler zuzuschreiben sein. Seine ursprüngliche Herkunft ist unbekannt, und es ist anzunehmen, dass auch die Scheibe Odet-Than erst im 19. Jahrhundert über Ankauf nach Villarsel-sur-Marly kam, bevor sie ins Museum Bulle gelangte. Möglicherweise wurden die beiden Scheiben einst in ein Frauenkloster gestiftet, worauf die in ihnen ausgedrückte mystische Frömmigkeit, Brautvorstellung und Jesuskindverehrung deuten dürften (vgl. zuletzt Seelenkind 2012/13).
Unter den möglichen Glasmalern der vorliegenden Scheibe kommt am ehesten Hans Wäber in Betracht. Sebastian Schnell weilte zur Zeit der Herstellung in Willisau, der Schriftcharakter der Inschrift entspricht auch nicht den aus seiner Hand überlieferten Glasgemälden. Jakob Huser tritt erst 1629 in Freiburg auf. Der gut bekannte Stil Christoph Heilmanns und Jost Hermanns weicht deutlich von dem hier vertretenen ab. Peter Heinricher war zu diesem Zeitpunkt kaum noch als Glasmaler tätig. Schliesslich können Hans Gartner aufgrund mangelnder Anhaltspunkte kaum Werke zugeordnet werden (vgl. FR_119).
Dating
Um 1628
Period
1620 – 1640
Date of Receipt
1986
Original Donor
Montenach, Niklaus von (1596–1664) · Reynold, Katharina (1604–?)
Donor / Vendor
Previous Location
Place of Manufacture
Owner
Previous Owner
Wohl aus der Sammlung de Trétaigne, dann Sammlung de Montenach. 1986 Schenkung Georges de Montenach.
Inventory Number
VMR 151