Research
Im Jahr 1927 musste die alte evangelische Stadtkirche von Frauenfeld fast vollständig abgebrochen werden, nur ein Teil des Turms blieb bestehen. Der junge Architekt Hans Wiesmann, der 1931 Kantonsbaumeister von Zürich werden sollte, entwarf den Neubau, der auch die älteren Turmteile miteinbezog. Er orientierte sich dabei am vorherrschenden Bauhausstil und schuf eine Kirche, die von Zurückhaltung und formaler Strenge geprägt ist. Vorgesehen war im Chor ein farbiges Fenster, das durch seine schmale und hohe Form die Grundsätze des Baus aufnahm. 1929 fand die Einweihung der Kirche statt.
Im Frühjahr 1928, also noch während sich die Kirche im Bau befand, besuchte der Frauenfelder Pfarrer Bolli mit einer Delegation Augusto Giacometti in seinem Atelier an der Rämistrasse in Zürich. Die Baukommission und der Pfarrer hatten vor ihrem Zusammentreffen mit Giacometti den Gekreuzigten oder den Guten Hirten als mögliches Hauptmotiv für das Chorfenster in Betracht gezogen.
Das handschriftlich verfasste Werkverzeichnis von Giacometti führt noch für das gleiche Jahr eine Pastellzeichnung für die Frauenfelder Kirche auf – unter dem Titel «Das Leben Christi». Im folgenden Jahr entsteht eine grössere Pastellzeichnung, die heute im Kirchgemeindehaus ausgestellt ist.
Am 20. Dezember 1930 wurde das Fenster von Augusto Giacometti in die evangelische Stadtkirche von Frauenfeld eingesetzt.
Das Fenster zeigt in sechs übereinander liegenden Bildfeldern, die jeweils in einem ornamentalen Rahmen einbeschrieben sind, das Leben Christi. Von unten nach oben sind zu sehen: die Geburt Christi, die Taufe Christi durch Johannes, das Gebet im Garten Gethsemane, die Kreuzigung, die Auferstehung Christi und als letzte Darstellung das Jüngste Gericht bzw. Jesus als erdzeitlicher Richter und Gott.
Darunter befinden sich in vier Registern ornamentale Bildfelder. Giacometti hat damit die ursprüngliche Platzierung der Orgel im Chor berücksichtigt und die von den Besuchern nur wenig einsehbaren Bereiche des Fensters ohne figürliche Darstellungen ausgestattet. Nach der Basler Privatkapelle 1919 und dem Davoser Südfenster der Kirche St. Johann 1928 ist dies bereits das dritte Mal, dass Giacometti hier gezielt die Abstraktion in sein Werk mit einbezieht.
Die kräftigen Farben – viele Rot- und Blautöne, etwas Grün, Gelb und Violett – tauchen die schlichte Kirche in ein Farbenspektakel und bilden den Höhepunkt des Baus. Die kleinteilige Struktur der Fenster und die Hauptfarben erinnern an mittelalterliche Kathedralfenster, die Giacometti in Frankreich und Italien studiert hat. Gezielt hat der Künstler bestimmte Partien verdunkelt, indem er nicht nur aufgebranntes Schwarzlot eingesetzt hat, sondern auch als Kaltbemalung aufgetragen hat. Durch diese Kontrastwirkung treten die nicht abgedunkelten Bereiche stärker hervor und die Farben des Fensters scheinen sich gegenseitig im Wettlauf um die stärkste Leuchtkraft übertrumpfen zu wollen.
Dating
1929
Owner
Evangelische Kirchgemeinde Frauenfeld